Die Welt ist subjektiver als wir denken!

Wenn wir die Welt betrachten, so bekommen wir das Gefühl, dass wir ein reales Abbild dieser Welt im Kopf haben. Wir nehmen an, dass uns wichtiges nicht entgeht und alles genau so geordnet ist, wie wir uns das vorstellen. Wir denken, dass wir die Welt ausgewogen sehen und dass wir wissen, was wichtig ist und was nicht. Denken wir.

Denkt der andere wie wir?
Stellen wir uns vor, wir haben klopfen mit dem Finger den Takt eines Liedes, das wir im Kopf haben. Was denkst Du, wie gross ist die die Wiedererkennungsrate? 50%? 80% Wir denken an „Last Christmas“ von Wham, sehen das schöne Chalet im Wallis vor uns mit der Schneeballschlacht. Wir klopfen und klopfen… die Rate ist bei mageren 2.5%. Von 100 Liedern werden nur zwischen zwei und drei Liedern erkannt. Warum ist das so?

Wie sieht die Welt denn aus?
Wir nehmen an, dass der andere die Welt auch so sieht wie wir. Und das ist der Fehler! Wir alle sind geprägt von Informationen und Erfahrungen. Wir haben unterschiedliches erlebt und setzen andere Schwerpunkte. Wir empfinden unterschiedlich und sind durch unsere Kultur und Subkultur unterschiedlich geprägt.

Alles eine Frage der Perspektive?
Wenn wir zwischen zwei gegenübersitzenden Personen ein Blatt legen, dass auf der einen Seite eine „6“ sichtbar ist. Dann wird der Mensch auf der anderen Seite behaupten, es sei eine „9“. Wir können streiten, doch beide haben recht! Was für den einen eine 6 ist, kann für den anderen eine 9 sein. Nur wenn wer sich in mich hineinversetzt, können wir gemeinsam eine 6 und eine 9 sehen. Streit scheint also eine falsche Strategie zu sein.

Sehen wir das gleiche, wenn wir die gleiche Perspektive haben?
Wenn zwei Menschen aus der gleichen Perspektive aus dem Fenster schauen, dann sehen sie doch das gleiche. Oder? Wenn wir die Menschen dann fragen, dann sieht der eine die Bäume, die zurückgeschnitten worden sind. Der andere sieht die Spuren im Schnee. Der dritte bemerkt, dass das Fenster nicht gut geputzt ist. Der vierte sieht einen Vogel, der vorbeizieht. Nicht einmal wenn wir aus der gleichen Perspektive schauen, sehen wir das gleiche!

Meinen wir das gleiche, wenn wir etwas sagen?
Wenn wir das Wort „Bank“ sagen. Was verstehen die verschiedenen Menschen darunter? Für mich ist der Fall klar. Da ich eine Banklehre gemacht habe, verstehe ich fast immer ein Finanzinstitut darunter. Als mir beim Segeln mein Navigator sagte, dass vor dem Bug eine Bank sein könnte, dann sah ich vor meinem geistigen Auge ein altehrwürdiges Gebäude im Wasser. Haben wir etwa Atlantis gefunden? Nein, eine Sandbank tut’s auch! Der Kapitän versteht also unter einer Bank eine Sandbank. Was, wenn ich einem Schreiner sage, er solle mir eine Bank erstellen? Er wird mir wohl weder den Garten mit Sand überhäufen, noch einen Schalter hinstellen, wo man Geld beziehen kann. Er wird mir eine gute alte Sitzbank herstellen, wo ich einen Sommerabend geniessen kann! Wie sieht es mit anderen Begriffen aus wie Wahrheit, Gerechigkeit, Konsequenz aus? Verstehen wir alle das gleiche?

Was ist denn Wahrheit und was ist Gerechtigkeit?
Wahrscheinlich gibt es „die Wahrheit“ gar nicht! Da jeder Mensch die Welt durch eine Vielzahl von Filtern sieht, ist das Weltbild des einzelnen immer verzerrt. Es wird noch schlimmer, denn es wird unterschiedlich verzerrt: Jeder Mensch sieht es anders! Somit ergibt sich eine Wahrheit – nämlich die eigene Wahrheit. Zu glauben, dass der andere die gleiche Wahrheit hat, wäre töricht. Bei der Gerechtigkeit ist es ähnlich. Da wir unterschiedliche Wahrnehmungen und Programmierungen haben, empfinden wir andere Massnahmen als gerecht. Steinigung, Todesstrafe, Gefängnis, Rüge oder Lob? Alles gerecht oder ungerecht im Auge des Betrachters! Ich habe noch nie einen Menschen angetroffen, der Unsinn spricht. Jeder Mensch sieht die Wahrheit so, wie er sie durch seine Filter sieht. Und das ist für ihn die Wahrheit – und kein Unsinn.

Bewusstes und Unbewusstes
Vera Birkenbihl sagte: Wenn wir 15mm bewusstes haben, dann haben wir 11km unbewusstes. Stellen wir uns dies mal vor! Der bewusste Bereich stellt 0.00013636% dar! Er ist also so unendlich klein, dass wir ihn fast vernachlässigen können! Sprechen wir also mit einem Menschen und versuchen uns in ihn hineinzuversetzen, dann werden wir auch von ihm viele Sachen hören, die gar nicht stimmen können, weil sie unbewusst ablaufen. Wir stochern also mit einer Taschenlampe mit 15mm Tragweite in einem Nebel-Kanal von 11km herum. Da wird sich sicher noch einiges finden lassen, dass interessant ist!

Mikro-Mimik lügt selten
Wenn wir Lügner beispielsweise entlarven wollen, dann können wir auch auf die Gesicht achten. Wohl wissend, dass die Mimik nicht ausschliesslich bewusst gesteuert wird, können wir auf Anzeichen achten, die uns eine Lüge verraten kann. Wir können uns also den Bereich des Unterbewussten gewissermassen zum Komplizen machen!

Was ist die Lösung?
Als erstes müssen wir uns bewusst werden, dass unsere Sicht der Welt nur eine Möglichkeit darstellt, wie man die Welt sehen kann. Wir müssen also vom Bild abrücken, selber auf einem Berg zu stehen und alles objektiv zu sehen. Wir sind viel subjektiver unterwegs, als wir denken! Was wir tun können, ist uns mit den anderen Menschen zu beschäftigen und bei ihnen nachzufragen. Man muss versuchen, ihre Gefühle und ihre Sicht abzuholen um ein besseres Verständnis zu bekommen. Das nennt man Empathie. Empathie fängt an mit Respekt. Respekt vor dem anderen, seiner Meinung und seines Wesens. Wichtig ist, dass man nicht die Position des anderen versteht, sondern sein Interesse. Wenn wir selber bei unserer Position das Interesse ergründen, können wir viel besser mit anderen Menschen umgehen, sie verstehen und mit ihnen verhandeln. Dies bringt sicherlich auch mehr Frieden. Denn wenn man sich bewusst wird, dass es verschiedene Wahrheiten gibt, dann werden wir nicht einfach blind auf den anderen einschlagen. Wenn wir die Interessen auf einer Linie haben, können wir eine Linie finden, die gut ist!

Nachtrag zum lieben Thema Kompromiss: Reisen
Ich möchte mit meiner Partnerin in die Ferien gehen. Sie möchte gerne nach Indien, ich möchte gerne nach Dubai. Wir machen einen Kompromiss: Wir treffen uns in der Mitte. Wir nehmen einen Linial, verbinden Indien mit Dubai und bestimmen die Mitte. Wow, ein Kompromiss! Werden wir beide glücklich sein, wenn wir am Flughafen von Kandahar in Afghanistan aussteigen? Wohl eher nicht. Hätten wir das Interesse ergründet: Sie möchte gerne die Kultur geniessen, und ich möchte gerne Badeferien, dann hätten wir uns beispielsweise auf den Oman geeinigt. Wir hätten also die Interessen ergründen müssen, und nicht auf den Positionen beharren sollen!

Nachtrag zum lieben Thema Kompromiss: Die Orange
Zwei Schwestern streiten sich um eine Orange. Nach einem langen hin und her wird es der Mutter zu bunt, sie packt die Orange, teilt sie und gibt jeder Tochter genau die Hälfte. Sie hat doch gut und gerecht gehandelt, oder? Leider nicht, denn die eine Schwester hätte gerne einen Orangensaft gepresst, und hätte dafür den Inhalt der Orange gebraucht. Die andere Schwester hätte gerne einen Kuchen gebacken, und hätte dafür die Schale gebraucht. Man hätte also beim Ergründen der Interessen den Streit sofort beenden können und so quasi aus einer Orange eine zweite gemacht. Nun stehen sie beide halb unglücklich da, mit einer Orangenhälfte in der Hand.

Die Welt ist subjektiver als wir denken!
Wenn wir also mehr auf den anderen eingehen, seine Interessen und seine Gedanken erfassen, dann können wir viel eher Brücken bauen und eine gute Bindung aufbauen. In unserer digitalen Welt haben wir quantitativ viel mehr Bindungen zu anderen Menschen, aber diese sind weniger tief. Nur tiefe Bindungen schaffen Vertrauen und bringen Verständnis und Frieden. Und hier sehe ich ein Problem unserer Zeit: Obwohl die Quantität der Freunde steigt, sinkt die Qualität der Beziehungen und wir werden unzufrieden. Es ist also an der Zeit, wieder Freundschaften aufzubauen, Bindungen zu stärken und die Menge zu reduzieren. Suchen wir für uns das „Gute“ und nicht das „Viele“. Denn das „Gute“ wird uns letztendlich Glück und inneren Frieden bringen. Wenn wir wissen, dass wir die Welt subjektiv wahrnehmen und uns austauschen, entsteht ein gemeinsames Verständnis für den anderen. Und das tut gut!