Das Leben vom Tod aus betrachten

Oft ist man im Alltag gefangen und man erledigt viele unnötige Handlungen, die auf lange Sicht überflüssig sind. Wir leben in einer Gesellschaft, wo der Tod aus dem Leben verdrängt wurde und der unendliche Konsum- und Schönheitswahn universell zu regieren scheint. Warum nur kaufen wir uns teuere Sachen, oft mit Geld, das wir nicht haben, um Menschen zu beeindrucken, die wir nicht mögen? Die permanente Verunsicherung durch die unzähligen Kanäle in unserer Gesellschaft führen dazu, dass wir Menschen zunehmend verwirrt sind und nicht mehr genau zu wissen scheinen, um was es eigentlich geht.

DQS – De quoi s‘agit-il?

Diese Frage aus meiner Militärzeit lädt dazu ein, sich bei einem Ereignis etwas zurückzunehmen, einen Moment innezuhalten und sich zu überlegen, um was es eigentlich geht. Es ist nicht immer offensichtlich und man sollte dieses Verhalten wie einen Muskel trainieren – denn nur allzu oft schiessen wir aus der Hüfte und lassen uns von unseren Emotionen zu Handlungen hinreissen, die alles andere als klug sind. Klar gibt es Momente, wo man sofort und unmittelbar handeln muss. Wenn z.B. jemand auf meiner Fahrbahn in der Nacht entgegenkommt oder jemand zu einem Faustschlag ausholt, dann ist DQS auch gefragt, mit der Analyse, dass es ein Notfall ist, und ich sofort handeln muss. Aber einem Ess- oder Kaufimpuls kann man mit Charakterstärke entgegenwirken und es setzen lassen – um dann herauszufinden, dass es eben nur ein Impuls war. Kommt jemand auf uns zu und beschimpft uns, provoziert uns: Was ist unsere Antwort? Wir werden nicht provoziert – sondern wir lassen uns provozieren. Es sind immer unsere eigenen Anti-Provokations-Programme, die uns dann – meist unschön – handeln lassen. Es geht nie um den anderen und immer um sich selbst. Stellen wir uns vor, unser Gegenüber spräche eine andere Sprache, die wir nicht verstehen würden. DQS: Wir müssen nichts tun, wir lassen es an uns vorbeigehen, denn wahrscheinlich will der Andere provozieren, ist unzufrieden, oder hat einen schlechten Tag. Das hat nichts mit uns zu tun – und erfordert auch keine Reaktion. Eher könnten wir dankbar sein für die Lektion Gelassenheit, wo auch Epiktet immer wieder meinte, die sei manchmal sehr teuer zu erkaufen!

Momento Mori

Mark Aurel war ein bedeutender Römischer Kaiser, Philosoph und Vertreter der Stoa. Er hat während seiner Regierungszeit eine grosse Seuche in Rom zu vergegenwärtigen und auch militärisch lief es nicht nur gut. In seinem Buch „Selbstbetrachtungen“ – sehr empfehlenswert – hat er uns ein bedeutendes Werk überlassen, wo wir die Wurzeln seines Handelns nachvollziehen kann. So ist einer der Grundsätze “Momento Mori“, also sinngemäss “Bedenke, dass Du sterben wirst“. Und so propagierte er, das Leben vom Tod her zu betrachten, der jederzeit eintreten kann. In dieser Optik spielte nicht Geld, Ruhm, Ehre eine Hauptrolle, sondern Zeit. Die Zeit ist unwiederbringlich verloren und unumkehrbar, wenn sie verstrichen ist. Er sagte auch, dass er morgens lieber Arbeiten geht, als unter seiner warmen Bettdecke zu verharren. Denn so könne man die Welt nicht verbessern. Aurel gibt uns einen wahren Schatz in die Hand: Der Tod des Menschen ist unausweichlich und so tun wir gut, die Zeit bis dahin weise zu nützen. Unter diesen Gesichtspunkten spielen Geld, Ruhm, Macht, Besitz, keine Rolle. Und genau hier scheint sich ein Bogen in die heutige Zeit zu spannen: Wir leben in einer Zeit, wo wir viel nach Macht und Geld streben, dann irgendwann später im Leben nach Gesundheit (die wir dank unserem Macht- und Geldstreben kaputtgemacht haben); und geben dafür wieder erworbenes Geld aus und verlieren den Titel. Das ist schon bemerkenswert, oder?

Der Tod als Überraschungsmoment
1. Der eigene Tod

Mit 16 Jahren hatte ich als Schüler der letzten Schulklasse plötzliche schwere Koliken und wurde hospitalisiert. Mit der Diagnose “schwere ödematöse Pankreatitis“ wurde ich in den Notfall gebracht, wo ich mit dem Leben gerungen habe. Eigentlich war es nicht ich – es waren die andern. In meiner Nahtoderfahrung war er ganz ruhig und friedlich, das berühmte Licht am Ende des Tunells wurde sichtbar und ich fing an zu Schweben – währendem die anderen mit Wiederbelebungsversuchen beschäftigt waren. Erst als ich einen Arzt schreien hörte „es ist noch zu früh!“, kam ich wieder zurück und ging in meinen Körper. Danach folgten drei Wochen auf der Intensivstation, wo die Zeit nicht herumging und eines der einzigen Geräusche mein Herzschlag auf dem Monitor war. Nach drei Wochen wurde ich in den Garten des Spitals gebracht und ich sass auf einer Bank, vor mir eine junge Entenfamilie, die ihre Runden auf dem Teich drehte. Ich fing an zu weinen vor Glück. Und das hatte etwas mit mir gemacht, denn ich wusste, alles, was jetzt folgt, ist eigentlich nur Zugabe!

Der Tod als Überraschungsmoment
2. Der Tod eines Kindes

Nachdem meine Ehefrau und ich eine fürchterliche Grippe überstanden hatten, kam eines Tages unsere Tochter nach Hause und torkelte mit Fieberaugen in meine Arme und wurde bewusstlos. Auch sie hatte die Grippe erwischt. Nach einer endlosen Zeit auf der Intensivstation stellte sich der Hirntod ein und ein paar Tage später war ich auf dem Friedhof vor dem Grab meiner Tochter – unendlich traurig – und dachte mir, ob es denn das sein könne. Auf die W-Fragen (Warum, weshalb ich…) gibt es leider keine Antworten; mehr noch, die Fragestellung selber ist toxisch und selbstzerstörerisch. Ich hätte mich gefreut, hätte ich wie Epiktet sagen können: Wenn Du das Kind nicht als Dein Eigentum betrachtest, so wirst Du auch nicht traurig sein, wenn es stirbt. Es ist dir nur geliehen worden – und jetzt wurde es zurückgegeben. Wieder stand ich vor einer Kreuzung ohne Wegweiser und ganz allein, und wusste im Moment nicht weiter. Ich habe mich für das Leben entschieden und versuche die Menschen zu stärken, damit sie mit solchen Schlägen umgehen lernen können.

Der Tod als Überraschungsmoment
3. Der Tod eines Kollegen

Ein paar Jahre später sprach ich mit einem pensionierten Pfarrer, mit dem ich immer wieder philosophische Gespräche pflegte. Er meinte, dass man im Leben immer mit dem Tod rechnen müsse, und man keine offenen Rechnungen haben dürfe. An einem Abend fragte ich ihn – rein zum Spass – ob er denn offene Rechnungen habe oder er bereit sei. Er lachte und sagte: „Mach Dir keine Sorgen, alles beglichen und in Ordnung!“ Ironie des Schicksals: Fünf Minuten später fiel er in der Garderobe hin und alle Wiederbelebungsversuche misslangen. Er starb sehr überraschend an einer Hirnblutung und ich wusste, dass er bereit war und keine Rechnungen offen hatte. Wie vorbildlich! Trotzdem waren alle fassungslos und traurig. Ich konnte die Witwe und die Hinterbliebenen trösten und versuchte, ihnen Mut zu machen.

Das Leben ist keine Probe – es ist die Aufführung!

Und wenn man diese drei Fälle betrachtet, dann folgt die Empfehlung, das Leben vom (eigenen) Tod her zu betrachten. Jede Minute, die wir verbringen. Jede Handlung, die wir tun. Jedes Wort, welches wir sagen: Wir stehen im Leben und sind Figuren auf der Bühne – es gibt keine Zugabe und irgendwann schliesst sich der Deckel und wir fallen in die Grube. Von diesem Standpunkt aus gesehen, sollten wir weniger an Sachen hängen, die Flügel haben, und uns daran halten, was wir in unserem Leben mit uns selbst erreichen wollen. Wie heisst der Buchtitel im Buch unseres Lebens – wie lauten die einzelnen Kapitel? Macht nicht die Vergänglichkeit das Leben erst so richtig kostbar? Erst wenn wir das verstanden haben, verstehen wir das höhere DQS und können verantwortungsvoll, gelassen und voller Energie durch unser Leben gehen. Immer wissend, wo wir unsere Energie investieren und wo wir es lieber sein lassen. Packen wir‘s an, denn es ist (vielleicht) später als wir denken!

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